19 | Oktober | 2018

Schnalzende Menschen – ein Grauen oder der Blick in den Spiegel?

Große Menschenmengen sind von Grund auf irgendwie scheiße. Sofern man sich nicht ganz bewusst dazu entschlossen hat, einer solchen beizuwohnen, beispielsweise auf einem Konzert, dann hält man sich da besser raus. Am schlimmsten sind diese unfassbar gestressten Menschen, die weder Geduld noch Verständnis dafür haben, wenn es mal etwas langsamer vorangeht.

Tatort Bahnhof: Ein großer Regionalexpress ist gerade eingefahren und Unmengen an lebendigem Menschenfleisch drängen sich durch das Bahnhofsgebäude. Zeitgleich halten noch gefühlt ein Dutzend Busse und Straßenbahnen vor dem Bahnhof. Wie zwei altertümliche Heere prallen die Menschenmassen nun aufeinander. Dabei kann es schon mal zu Verzögerungen kommen.

Auf der Suche nach dem Schuldigen

Und nun das: Mitten in der Masse befindet sich ein vermeintlich schwächeres Exemplar der Spezies Mensch, welches sich nicht in dem gewünschten Tempo voran bewegt. Wie Wasser, das den Bach entlang um einen Stein fließt, bewegen sich die Menschen um das unerwünschte Subjekt herum. Ärger legt sich in die Blicke. Viele sind gestresst. Denken, sie würden ihren Zug verpassen, der in einer viertel Stunde vom zehn Meter entfernten Gleis abfährt und möglicherweise sowieso fünf Minuten Verspätung hat. Wer gibt diesen armen Menschen nur die verlorene Lebenszeit wieder? Natürlich niemand! Der Schuldige für das Versäumnis, eine halbe Minute früher am Bahnsteig auf den verspäteten Zug zu warten, ist selbstverständlich glasklar. Und dann ein Geräusch, das den gesamten angestauten Frust auf einfachste Art und Weise verbalisiert. Ein Ausdruck tief sitzenden Unmutes, der um jeden Preises willen nach außen getragen werden muss. Noch im selben Moment, in dem der Störenfried überholt wird, ertönt ein scharf geschossenes Schnalzen. Neben der zum Rempeln eingesetzten Schulter eine der Hauptwaffen in diesem altertümlich angehauchten Gemetzel um jede kostbare Sekunde Lebenszeit.

„Ztt“ oder „Tzz“ – die verlautlichte Form von Frust

Jeder verwendet ihn mal, diesen Laut, den man kaum verschriftlichen kann. „Ztt“ oder „Tzz“, irgendwas in die Richtung. Dieses Geräusch entgleitet einem zum Beispiel bei dem Versuch, irgendetwas Fummeliges zusammenzubasteln und es nicht so ganz glücken will. Manch einer macht mit einem Schnalzen auch seinem Frust beim Autofahren Luft. Doch in Situationen wie dem Bahnhofsgedränge scheinen viele Menschen dieses Geräusch nahezu perfektioniert zu haben. In einer ungeahnten Lautstärke übertönt das Schnalzen einiger verärgerter Passanten beinahe alle anderen Töne, die im Rummel des Bahnhofsgebäudes erklingen. Frust und Ärger als Profession. Die Kunst des Sichaufregens. Keine Ahnung, unter welcher Kategorie sich dieses Talent befindet. Macht sich so was wohl gut im Lebenslauf? Vielleicht ist es ein Soft Skill, der es einem leichter macht, als dauergenervter Beamter zu arbeiten. Andererseits ist es möglicherweise auch einfach dieses typische Deutschsein. Obwohl es sie in anderen Ländern sicherlich auch gibt, diese von Grund auf gestressten Menschen. Eventuell handelt es sich hierbei ja um einen tief sitzenden Instinkt, einer der Urlaute des Homo sapiens sapiens.

Herausforderung der eigenen Nerven

Wie dem auch sei: Was auch immer die Notwendigkeit für diese unnötigen Stresslaute sein mag, sie nerven ganz schön und machen das Durchqueren einer Menschenmenge mitunter noch unerträglicher. Andererseits wäre es geheuchelt, wenn ich mich nicht auch ab und an über Verzögerungen aufregen würde. Bestes Beispiel die große Anzeigetafel, die sich in vielen Bahnhöfen imposant über den Hauptdurchgang erstreckt. Immer wieder scheinen einige Leute die Kunst zu beherrschen, alles andere um sich herum komplett auszublenden. Dann gibt es nur noch sie und die von Leuchtmitteln unterfütterten Buchstaben, welche die anstehenden Zugverbindungen visualisieren. Von einem Moment auf den anderen bleiben sie einfach mitten im Gang stehen, um sich der Weisheit der Anzeigetafel hinzugeben und die Informationen in aller Ruhe aufzusaugen. Zum Ärger aller anderen, die in diesem Augenblick hinter besagten Personen gehen. Warum in Herrgotts Namen bewegt man sich nicht zur Seite und ließt sich das Teil aus sicherer Position durch? Stimmt, das wäre ja viel zu einfach. Dann lieber die Gefahr auf sich nehmen, von gefrusteten Menschen über den Haufen gelaufen zu werden. No risk, no fun, wie man so schön sagt. Da muss man sich dann selber stark beherrschen, nicht auch mit einem zutiefst verärgerten Schnalzen zu reagieren.